Erzählen und Erzählwerkstatt

Die Geschichtentasche
Zutatengeschichten
Erzählwerkstatt
Krabbelgruppe
Kasperle
Kamishibai-Geschichten für die Krippenkinder
Literatur

Die Geschichtentasche

Tante Eusebia Schreckschuss war groß, ihre hageren Knochen klapperten melodisch, wenn sie sich bewegte. In ihren großen braunen Augen spiegelte sich die Welt. Ihr Lachen war ein warmer Wasserfall, der alles Finstere in mir hinwegspülte. Sie hatte eine Vorliebe für große Hüte, die sie selbst mit allem verzierte, was sie fand, auf den Pfaden und Wegen und Stegen und daneben. Da klebten neben Plastikblumen ein blaues Feuerzeug, eine halbe Piratenflagge, ein Vogelnest, ein zerbrochenes Goldhamsterlaufrad, eine Kindersandale, Muscheln, Hölzer und Telefonkarten und sogar ein Gartenzwerg. Tante Eusebia war Geschichtensammlerin, Geschichtenerzählerin. Ihre Geschichten waren seltsame Geschichten, Geschichten, die mich erstaunten, denen ich atemlos zuhörte, die noch lange in mir nachhalten wie Echos aus anderen Welten.
Die Geschichtentasche, ein etwas unförmiges blaues Getüm mit ägyptischen Zeichen auf dem silbernen Verschluss, trug sie stets bei sich. Doch weder Portemonnaie noch Spitzentaschentuch trug sie je in dieser Tasche. Das puderfarbene Innenfutter hatte Löcher und Flecken und roch etwas muffig. Doch in seinen Falten wuchsen die Geschichten, die sie erzählte, wenn sie ausgewachsen waren. Manchmal durfte ich ein Wort hineinflüstern, um später eine ganze Geschichte zu ernten, die aus meinem kleinen Wort gewachsen war.

"Hast du die Geschichtentasche dabei?" fragen die Kinder oft, wenn ich morgens in die Kindergruppe komme. Am liebsten würden sie alle auf einmal ihre Worte in die Tasche flüstern, um eine Geschichte wachsen zu lassen, die von ihrem Wort handelt, und an der sie alle miterzählen. Eine Geschichte, so schief und undicht sie auch sein mag, die ganz ihre Geschichte ist.
Eine Geschichte, wie sie manche auch alleine erfinden können: die vierjährige Emma sitzt im Wald auf einem Stein, ihren Rucksack als Geschichtentasche auf dem Schoss. Sie erfindet eine Geschichte für die anderen Kinder, die um sie herum auf der Erde sitzen und zuhören, die ganz Kleinen wie die Größeren. Geschichten, sagte meine Tante Eusebia, leben von Phantasie und Liebe.

Zutatengeschichten

Die Kinder geben mir die Zutaten. Jedes Kind eine:
ein Haus, das knallt, ein Pferd, das zaubern kann, ein verrotteter Labellohalter, Tomaten, die man aufklappen kann, rote Schubkarren, Nasenpopel.
Ich beginne zu erzählen, die Kinder helfen mit.

Das Knallhaus

Am Ende eines kleinen Dorfes stand am Wegrand ein kleines Haus, verborgen hinter Sträuchern und Bäumen. Die Leute im Dorf nannten es das "Knallhaus", weil es immer wieder knallte. Darum hatten sie auch Angst, dort hinzugehen. Nur die Kinder, die in dem Dorf wohnten, waren neugierig und schlichen sich eines Tages zum Knallhaus. Die Gartentür quietschte rostig, als sie sie vorsichtig öffneten und zum Haus schlichen. Das war verwittert und alt und stand ganz still da. An der Haustür war keine Klingel und kein Schild, nur ein verrotteter Labellohalter, in dem ein Labello lag. Das mutigste der Kinder schnappte ihn sich und rief: "Schade, der schmeckt nach nichts! Ich hätte gerne einen, der nach Kirschen schmeckt." Kaum hatte es das ausgesprochen, da fiel klappernd ein Labello aus den Labellohalter, der nach Kirsche schmeckte. Da hatten die Kinder schnell verstanden, dass sie sich einfach nur eine Sorte wünschen mussten, und schon fiel ein Labello mit dieser Geschmacksrichtung aus dem Labellohalter. Auf einmal merkten die Kinder, dass die Tür des Knallhauses einen Spalt aufgegangen war, und ganz vorsichtig und leise betraten sie nun das dunkle Innere des Hauses. Da stand ein Pferd, das hatte große braune Augen und schaute sie sehr nett an. Ja, es nickte ihnen sogar zu und zeigte ihnen große rote Tomaten, die die Kinder aufklappen konnten. Darinnen waren kleine rote Schubkarren, die immer größer wurden, als die Kinder sie herausnahmen. Das Pferd lief durch die Hintertür in einen Garten hinaus, der der schönste Garten war, den die Kinder je gesehen hatten.
Obwohl es doch Herbst war, war hier Sommer, die Sonne schien warm und der Himmel war sehr blau. Ein Bach plätscherte zu einem kleinen See hin, auf dem kleine Boote schwammen. So viele Blumen wuchsen auf der ungemähten wilden Wiese, dass es wohl keine Farbe gab, die nicht vertreten war. Bäume aller Art spendeten Schatten, in manchen waren kleine Baumhäuser in ihren Zweigen, auf anderen wuchs Spielzeug wie Obst. Die Kinder konnten es sich einfach pflücken und damit spielen.
Natürlich kamen die Kinder jetzt jeden Tag zum Knallhaus. Immer wenn sie sich einen Labello gewünscht hatten, öffnete sich die Tür, und das Pferd ließ sie in seinem Garten spielen. Die Spielsachen aber ließen sie immer im Garten zurück. Ich glaube, sie hatten ein bisschen Angst, etwas von ihrem geheimen Garten an die Erwachsenen zu verraten.
Eines Abends, als die Kinder schon alle friedlich in ihren Betten lagen, schlich sich ein Dieb zum Knallhaus. Der wollte doch mal sehen, ob da nicht irgendwas zu klauen wäre. Leise schlich er um das Haus herum in den Garten und konnte seinen Augen kaum trauen, als er da einen Baum stehen sah, auf dem Geld wuchs! Er pflückte sich so viel davon wie er nur konnte, stopfte sich alle Taschen voll und schnappte sich eine der kleinen roten Schubkarren, die die Kinder hatten stehen lassen und füllte auch sie mit Geld. Was er nicht sah war das Pferd, das aus dem Fenster schaute und nur leicht mit seinen großen Augen klimperte. Dann rannte er so schnell er konnte nach Hause zu seinem Freund, der auch ein Dieb war. "Schau mal, was ich da habe!" rief er und erzählte dem Freund alles von dem unglaublichen Geldbaum. "Du Dummkopf", schimpfe dieser, "Warum hast du nicht den ganzen Baum ausgegraben, den könnten wir hier einpflanzen und hätten genug Geld für immer! Morgen gehen wir da hin und holen den ganzen Baum!" Aber zuerst wollten sie doch das Geld zählen! Da fasste der Dieb mit beiden Händen in die Schubkarre, in diesem Moment aber verwandelte sich das Geld in Nasenpopel, und die blieben an ihm kleben, so viel er sich auch wusch. Von dem Tag an war nie mehr ein Dieb in dem Garten vom Knallhaus. Aber die Kinder gehen natürlich auch heute noch hin und spielen dort.

Die Geschichte vom Knallhaus erzähle ich immer wieder in der Kindergruppe, auch wenn ihre ursprünglichen Köchinnen und Köche schon längst zur Schule gehen. Immer wieder verändere ich sie mit kleinen Überraschungen, und es gab auch schon einige Fortsetzungen, die ich mir aber nicht alle nach dem Erzählen behalte. Auch wenn die Kinder die ursprünglichen Zutatenspender nie kennen gelernt haben, wissen sie doch was eine Zutatengeschichte ist, ihre Lieblingssorte von Geschichten.

Nicht weil die Geschichten die besten sind, sondern weil sie daran beteiligt sind. Immer wieder ruft ein Kind erfreut auf, wenn seine Zutat in der Geschichte auftaucht. Manche Zutaten finden besondere Anerkennung in der Gruppe, auch das ist Nahrung. Und wenn das sprechende Skateboard zum dritten Mal erscheint, bitte ich um frisch gepflückte Zutaten. Wenn die Kleinsten der Gruppe anfangen, Zutaten zu geben, geben sie mir nicht einen Ritter sondern sagen: "Ich bin ein Ritter". Manchmal werden einzelne Kinder aus der Gruppe als Zutat genannt. Eine Zeitlang wurde immer wieder ein besonders schwieriges Kind von irgendeinem Kind aus der Gruppe vorgeschlagen, wohl wissend, dass es dann der Held der Geschichte ist.

Manchmal entstehen mit den Zutaten Geschichten, die heilsam sind. Einmal gab mir ein kleines zu dieser Zeit in seiner Trauer sehr wütendes fünfjähriges Mädchen seinen gestorbenen Vater als Zutat. Die anderen Kinder erfanden daraufhin gestorbene Urgroßeltern und Urururgroßeltern als Zutaten. In der Geschichte füllte sich nun ein Glitzerhaus auf Beinen mit Toten, die sie für eine kleine Zeit besuchen konnten. Beim Abschied aus dem Glitzerhaus konnte die Trauer des kleinen Mädchens herausbrechen. Während sie in meinen Armen weinte, blieb die ganze Gruppe mitfühlend bei ihr. Nach dem Weinen fingen die Kinder an, aus Gold- und Glitzerpapier Bilder für die Toten zu basteln.

Das Erzählen mit Zutaten kostet mich manchmal Überwindung. Viel bequemer ist es, Geschichten zu erzählen, die ich kenne. Und immer wieder bin ich den Kindern dankbar für ihre Begeisterungsfähigkeit, für ihren Geschichtenhunger, für ihre Kreativität, für ihre Fähigkeit, sich ganz auf die Geschichten einzulassen und mir zu folgen in den Raum, aus dem sich Bilder formen, und mir darin zeigen, was sie brauchen.

Von der Bedeutung des Erzählens als schulergänzendes Angebot

Das Erzählen ist eine Kunst, die aus unserer Menschheitsgeschichte nicht wegzudenken ist. Alle Religionen leben vom Erzählen. Erkenntnisse und Weisheiten wurden in Geschichten überliefert; Mythen, Legenden und Märchen erzählen von grundlegenden Erfahrungen unseres Menschseins.
Heute ist das Geschichtenerzählen weitgehend aus unserem Alltag verschwunden. Durch den Einzug der neuen Medien in unser Leben hat sich die Funktion des Erzählens grundlegend verändert; Medien treten statt Personen als Erzähler auf. Sie erzählen perfekter, spannender, bunter und schneller, aber die Zuschauer werden passiv, Kommunikation findet nur einseitig statt, der Fernseher kann nicht zuhören. Das Erzählen wird immer mehr auf das Berichten reduziert. Die Erfahrung der Verbundenheit und Nähe, wie sie beim Hören einer persönlich erzählten Geschichte entstehen kann, geht verloren. Die Handlung kann nicht mehr durch Miterzählen mitgestaltet werden und schlimmer noch: das Formen eigener innerer Bilder ist nicht mehr möglich. Über das passive Konsumieren von Bildern eröffnen sich keine inneren Erfahrungsräume.

Untersuchungen zu Folge bleiben Müttern heutzutage durchschnittlich 12 Minuten täglich für ein Gespräch mit ihren Kindern. Der erhöhte Fernsehkonsum trägt einen Teil zu dieser Verarmung der sprachlichen Kommunikation bei. Im Durchschnitt ist heute jedes vierte Kind im Vorschulalter von einer Verzögerung oder Störung seiner Sprachentwicklung betroffen, Kinder von Akademikern genauso wie Kinder von Hilfsarbeitern.

Sprachentwicklung bildet einen entscheidenden Faktor in der Spezialisierung unserer beiden Gehirnhälften. Mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit werden die neuronalen Muster des Gehirns komplexer. Jede erzählte Geschichte hilft dem Gehirn, neue Muster und Verbindungen herzustellen, denn sie spricht viele Sinne an. Die Kinder hören den Klang der Stimme, empfinden die Gefühle, die in der Geschichte eine Rolle spielen und sehen innere Bilder.

Erzählen ist die Kunst, das Leben zur Sprache zu bringen, ist ein kreativer Vorgang sprachlicher Schöpfung. Phantastisches Erzählen sucht zudem Ausdrucksformen für mögliche Seiten des Lebens. Es erweitert unsere Möglichkeiten, das eigene Erleben und Handeln zu verstehen, indem es ihnen neue sprachliche Formen gibt.

Die Erzählwerkstatt:

  • fördert Kinder über den schulischen Rahmen hinaus durch Hören und Erzählen von Geschichten in ihrer Sprachentwicklung
  • Komplexe Zusammenhänge werden über einen längeren Zeitraum verfolgt und entwickelt und erweitern die Denkstruktur
  • vermittelt ihnen jenseits von Lehrplan und Zensierungsdruck die Freude am Phantasieren, Bildung von Imagination und Phantasie
  • Eine symbolische Welt, insbesonders eine Sprachwelt wird gebildet
  • Erlebtes, Gefühltes wird in Szene gesetzt und verarbeitet
  • freies Erzählen in einer Gruppe wird geübt und stärkt damit die rethorischen Fähigkeiten und das Selbstbewusstsein der Kinder
  • stärkt das Vertrauen der Kinder in ihre eigene Kreativität - Kreativität als Fähigkeit, Probleme produktiv und selbständig zu lösen und als Chance, Kinder auf Aufgaben vorzubereiten, die in ihrer Zukunft liegen
  • Unbekannte und bislang nicht überschaubare Situationen und Problemlagen werden beim Erfinden von Geschichten durchdacht, Lösungen und Enden ausprobiert, Vorherssagen für die Geschichten werden entwickelt
  • schafft durch Nähe und Bezogenheit eine Atmosphäre von Vertrauen und unterstützt die Bildung der zwischenmenschlichen Beziehungen (den anderen zuhören, ihre Geschichten miterleben, mitbangen und mitlachen...)
  • vermittelt die Tradition und verschiedene Techniken des Erzählens.

Geschichten in der Krabbelgruppe

Auch mit Kindern im Krippenalter von 1 - 3 Jahren kann man wunderbar Geschichten erzählen .... nur anders, kleiner eben. Hier ein paar Geschichten vom Geschichtenerfinden mit den Kleinen:

Immer mal wieder wollen die Kinder keine Schuhe angezogen bekommen. Na, da schaue ich mal hinein, vielleicht ist da ja etwas drin? Etwas Komisches? Upps, eine kleine, klitze kleine Mama. Oh nein! Was, ein winzig kleiner Hund? Weg ist er. Ein Spiel wird daraus, eine kleine Geschichte. Immer wieder muss ich nun in den Schuhen irgendwas, irgendwen finden. Vergessen das lästige Schuheanziehen, das geht dann wie nebenbei, während wir mit dem Unsichtbaren spielen.
Einmal eine Maus. In Lenas Schuh. Aus der wurde mehr und sie bekam den Namen: Tilly. Lena (2 Jahre) nahm sie mit nach Hause und brachte sie am nächsten Tag wieder mit in die Gruppe. Die anderen Kinder nahmen Anteil an Tilly. Tilly war allen bekannt. Einmal behauptete Lenas Freundin Anna (2 Jahre), sie habe Tilly aufgegessen. Sie zeigte auf ihren Bauch und sagte: "Da kommt die nicht mehr raus!" Bittere Tränen. Nach dem ersten Schreck schlug ich vor, Anna mit den Füßen nach oben hinzustellen, damit Tilly herausfallen kann. "Na gut", sagte Anna dann und nahm Tilly wieder aus ihrem Mund heraus. Eine kleine Geschichte mit Gefahr.

Gefahr gibt es auch auch manchmal beim Auspacken des Frühstücks. Ich fasse ahnungslos in die Brötchentüte und werde gebissen. Das gibt es doch nicht! Meine Güte, was ist denn in der Tüten drin???? Die Kinder schauen gespannt. Ein Krokodil, raten sie. Es dauert, bis endlich das Brötchen zum Vorschein kommt. Es hat sich nur verstellt! Voher aber muss ich noch 345 Mal mit Angst und Überwindung in die Tüte fassen, Aua schreien und die Tüte aus der Hand fallen lassen. Dann endlich kann ich meiner Banane den Schlafanzug ausziehen und selber frühstücken. Mit Essen spielt man nicht... aber warum eigentlich nicht, wenn man es danach doch aufisst?

Auch die Windeln entwicklen ein Eigenleben. Manchmal ist auch was drin, was da nicht reingehört: ein Hamster mit Gummistiefeln, ein schlechtgelaunter Hund mit Regenschirm .... und die Kinder erfinden selber weiter, was ich in ihrer Windel finden soll. Manchmal fliegt mir die freche Windel aus der Hand durch die Luft. Ich schimpfe mit ihr, wusch, da fliegt sie schon wieder im hohen Bogen weiter und die anderen Kinder versuchen sie einfangen und schnell in den Mülleimer schmeißen. Deckel zu, Windel gefangen.

Sind das Geschichten?
Klar sind das Geschichten und es liegt an mir, ob ich sie weitererzähle. Die Kinder lieben es!
Einmal hat wochenlang jeden Tage ein Huhn in der Krabbelgruppe angerufen und uns erzählt, was es gerade macht. Manchmal war es krank, manchmal musste es sogar zum Hühnerdoktor, 'ne Spritze kriegen und einmal hat es uns echte hartgekochte Eier vor die Tür gestellt. Die waren lecker. Und da war gar nicht Ostern.

Es gibt nichts Humorvolleres als kleine Kinder. Sie lieben jede Form von Unfug und beginnen schon im Alter von wenigen Monaten mit schelmischen Spielen. Mit ihnen und für sie kann alles lebendig werden (am meisten natürlich wir selbst). Sie können mehrere Wirklichkeitsebenen paralell halten. Wir brauchen keine Sorgen haben, auch alles um sie herum lebendig werden zu lassen, das Stofftier, den Löffel, die Banane. Auch wir selbst können uns verwandeln, plötzlich eine komische Sprache oder mit verstellter Stimme sprechen, bis die Kinder uns wieder repariert haben, mit Laut und Leise, Hell und Dunkel, mit Licht und Schatten, mit Gegenständen und mit der Luft, in Bilderbüchern und Kleiderfalten können wir spielen, wenn wir Lust haben. Wenn wir uns nicht als kindisch abwerten. Wenn wir neugierig unseren Impulsen folgen und die der Kinder aufnehmen. Wenn wir mit uns selbst und mit den Kindern in Beziehung sind. Wenn wir uns anvertrauen.

Anna sitzt mit Lena auf dem Bett, sie sehen sich ein Bilderbuch an und Anna "liest" ihrer Freundin laut daraus vor - eine komplett selbst erfundene Geschichte. Sie kann jetzt schon selbst Geschichten erfinden und erzählen. Ich bin nur traurig, dass ich mein Aufnahmegerät nicht parat habe, um die Geschichte aufzunehmen!

Kasperle in der Krabbelgruppe

Eine andere Form des Geschichtenerzählens ist das Kasperletheater.
Jeden Donnerstag kommt der Kasperle. Er ist unser Freund. Die Kinder stellen selbst ihre Stühle in einer Reihe auf, erwarten freudig - erstens die Gummibärchen, die es immer beim Kasperletheater gibt und zweitens das Kasperle.
Selten schaffe ich es vorher, mir eine Geschichte auszudenken. Ich nehme den ersten Impuls und bleibe dann in dem gefundenen Bild, die Kinder helfen immer mit. Vor dem Spielen sehe ich zum Beispiel einen Luftballon auf dem Boden. Ich denke an Pu der Bär, wie er am Luftballon hängt, um von den Bienen Honig zu klauen. So sieht nun Kasperle heute etwas Glänzendes oben auf dem Theater. Er ist zu klein, wie soll er da bloß hochkommen? Er versucht am Vorhang hochzuklettern, rutscht immer wieder herunter. Das dauert, Spannung. Die Kinder wollen aufspringen, ihm helfen, aber da kommt die Prinzessin und versucht ihn hochzuheben. Klappt auch nicht. Jetzt hat sie eine Idee, sie gibt ihm ihren Luftballon und Kasperle schwebt fröhlich nach oben. Das klappt! Schön sieht die Welt von oben aus. Und das, was da glittzert ist ein toller Stein! Kasperle will ihn der Prinzessin zeigen, aber wie soll er nur wieder runterkommen? Die Kinder überlegen. Den Luftballon loslassen. "Aber dann falle ich doch und tue mir weh!" ruft der Kasper. Ratlosigkeit. "Ihr könntet mir was Weiches drunterlegen" sagt der Kasper, "dann tut es vielleicht nicht weh". Gemeinsam zerren sie die große Bettdecke unter das Kasperletheater und Kasperle lässt bei "Einszweidrei" los. Er fällt vergnügt in die Decke. Das macht Spaß! Jetzt wollen alle anderen Kasperlefiguren auch springen. Wir zählen immer "einszweidrei" in allen Sprachen, die in der Gruppe vertreten sind, und nach und nach spingen Räuber, Polizist, König, Hexe, Oma, Tiger, Krokodil, Drache, Ente und Zauberer in die weiche Decke. Mancheiner hat Angst und traut sich zuerst nicht. Dann reden die Kinder ihm Mut zu. Und bald liegen alle Figuren in der Decke. Kasperle singt sein Tritratralla und die Bühne ist frei für die Kinder, die nun mit Freude selbst Kasperle spielen.
Jetzt darf ich zuschauen und mir das Stück so ähnlich noch mal selber angucken.

Hier ein paar Ideen für kleine Kasperlestücke für Unterdreijährige:

  • Allgemein gilt: es brauchen nur kurze Geschichten zu sein, fünf Minuten etwa.
  • Je jünger die Kinder sind, desto besser, die Figuren tun das, was sie selbst auch tun.
  • Kasperle und seine Freunde spielen die gleichen Lieder und machen die gleichen Tanzspiele, die die Kinder aus dem Morgenkreis kennen.
  • Sie spielen Verstecken hinter dem Vorhang des Kasperletheaters.
  • Die Oma ist weg, Kasperle ruft und ruft sie, findet dann in den Mützen, Hausschuhen und Handschuhen der Kinder alle Kasperlefiguren, die sich da versteckt haben und endlich: die Oma. Aber nächstes Mal, darf ich mich verstecken, ruft Kasperle zum Schluss.
  • Kasperle hat Geburtstag und bekommt von allen Tieren ein Geschenk gebracht, lustige und merkwürdige Geschenke.... und am Ende hat er auch etwas für die Kinder....
  • Kasperle findet einen Koffer, was ist da wohl drin? Der Koffer macht komische Geräusche, die Kinder raten, was das sein kann. Soll der Kasperle den Koffer aufmachen oder ist es gefährlich? Natürlich macht er ihn auf, was schwer geht und ein paar Anläufe braucht. Und was ist drin? Ein Tiger, der Hunger hat und dringend schnell etwas zu Essen braucht und Omas Kuchen bekommt, oder eine kleine Ente, die Kasperles Freund wird oder eine schöne Prinzessin, die zu ihrem Papa will... etc. Vielleicht kommt noch das Krokodil vorbei, und sie müssen sich noch schnell im Koffer verstecken....
  • Kasperle hört ein Weinen. Was ist das? Die Kinder raten. Er sucht und sucht. Findet schließlich das Krokodil, das weint, weil es Zahnweh hat. Kasperle geht mit ihm zum Zahnarzt. Das Korkodil will das Maul nicht aufmachen. Der Kasperle nimmt es auf seinen Schoß und die Kinder sollen ihm ein Lied zur Beruhigung vorsingen und der Zahnarzt kann dem Krokodil helfen....
  • Kasperle rettet eine kleine mauzende Katze vom Baum und nimmt sie mit nach Hause. Er hat das Katzenbaby so lieb und gibt ihm zu Trinken, nimmt es mit ins Bett. Die Katzenmama kommt und will ihr Kleines wiederhaben. Soll Kasperle es ihr geben? Darf er es behalten? Was denken die Kinder? (Sie können Kasper so gut verstehen, aber sie finden immer, dass das Kleine zu seiner Mama zurück soll). Kasperle gibt der Katzenmama das zurück und ist traurig. Die Oma tröstet Kasperle, dass er sie doch immer besuchen und mir ihr spielen kann.
  • Ein Hunn singt das "Tritratrallala-Lied" - die Kinder wundern sich. Meistens sagt eins. "Du bist doch gar nicht der Kasperle". Doch, das Huhn gackert, es ist das Kasperle. Die Oma kommt, aber Kasperle, wie siehst du denn aus? Was? Die Hexe hat Kasper zum Spaß in ein Huhn verzaubert. Die Oma sucht die Hexe und bittet sie, Kasper zurückzuverwandeln. Die Hexe hat den Zauberspruch vergessen, die Kinder müssen helfen. Ein paar mal geht es schief und aus dem Huhn wird ein Tiger oder ein Handschuh etc. bis es endlich wieder der Kasper ist.
  • Kasperle will fliegen und es geht immer wieder schief. Er fragt einen Vogel, wie es geht, befolgt alle seine Anweisungen, aber er fällt immer wieder runter. Fragt die Kinder, ob sie fliegen können? Er weint vor Enttäuschung. Die Hexe kommt und nimmt ihn zum Trost ne Runde auf dem Hexenbesen mit.
Für die Zweijährigen kann man z.B. einfache Bilderbuchgeschichten nachspielen oder die altbewährte Märchenstruktur nehmen:
  • ein Problem am Anfang
  • die Suche nach der Lösung
  • und die Lösung
Und natürlich kann man alle aktuellen Situationen in der Gruppe aufgreifen:
  • Kasperles Freund Tom hat Heimweh nach der Mama, Kasperle versucht ihn zu trösten, bittet auch die Kinder, Tom zu trösten. Das, was als Trostritual in der Gruppe bekannt ist, kommt zum Einsatz - eine Kerze wird angezündet und Tom darf das Streichholz auspusten, ein Lied wird gesungen, eine Quatschgeschichte erzählt (ist die Mama im Kühlschrank, im Backofen, im Mülleimer, in der Handtasche, in der Hosentasche, im Suppentopf..?) Am Ende kommt Toms Mama.
  • Kasperle hat einen tollen Turm gebaut, den macht der Tiger kaputt und er ist sauer und traurig. Jemand kommt und hilft ihm, dabei werden sie Freunde.
  • Kasperle hat einen Papierflieger, den er zu den Kindern fliegen lässt. Seine Freundin, die Prinzessin kommt und sagt, das der Flieger ihr gehört. Sie streiten sich und ziehen an dem Flieger, bis er zerreißt. Oh Schreck! Tränen bis die Oma kommt und mit ihnen zwei neue Flieger basteln geht.

Kamishibai-Geschichten für die Krippenkinder

Das aus Japan stammende Kamishibai (Papiertheater) ist eine wunderbare Erzählhilfe für die Krippenkinder. Da es nicht viele geeignete Geschichten für die Unterdreijährigen gibt, habe ich selbst welche geschrieben und gemalt.
Von den zu kaufenden Erzählkarten eignen sich im U3-Bereich "Das Rübenziehen", "Der dicke fette Pfannekuchen" und "Der Wolf und sie sieben Geißlein" und "Das war ich nicht".
Nach dem Erzählen dürfen die Kinder das Kamishibai untersuchen, sie lieben es, die Türen auf und zuzumachen und die Bildkarten herauszuholen und hineinzustecken. Oft steht ein Kind hinter dem Kamishibai neben mir, während ich erzähle und nimmt damit schon einmal die Erzählerperspektive ein.

Mit den Kindergartenkindern erfinde ich frei Geschichten, die ich für sie aufschreibe oder aufnehme und die sie dann auf DIN A3 Blättern malen. Erzählfreudige Dreijährige erfinden auch häufig frei ihre Geschichten, während sie ihrer Bilder zeigen. Damit sie nicht verlorengehen, schreibe ich die Geschichte dann mit, bzw. nehme sie auf.

Gute Tipps zum Erzählen mit dem Kamishibai finden sich in dem Buch "Mein Kamishibai – Das Praxisbuch zum Erzählen" von Helga Gruschke und Susanne Brandt.

Empfehlenswerte Literatur:
Anleitungen zum Erzählen und Märchen
  • Seidl, Claudia: Erzähl mir die Welt; Linz 1999, Veritas Verlag
  • Betz, Felicitas: Märchen als Schlüssel zur Welt; Lahr/München 2001 (9.), Verlag E. Kaufmann/Auer
  • Westhof, Jochen: Erzähl mir was; Lahr 2002 (2.), Verlag E. Kaufmann
  • Schieder, Brigitta / Bosco, Don: Märchen machen Mut; München 2003 (2.), Don Bosco Verlag
  • Schieder, Brigitta / Bosco, Don: Mit Märchen durchs Jahr; München 2003 , Don Bosco Verlag
Zur Bedeutung des Erzählens für Kinder
  • Bettelheim, Bruno, Kinder brauchen Märchen; München 1999 (21.), DTV Verlag
  • Rodari, Gianni: Grammatik der Phantasie; Leipzig 1999 (2.), Reclam Verlag
  • Dreißig, Georg: Was Kinder innerlich stark macht; Stuttgart 2002, Verlag Urachhaus
  • Meijs, Jeanne: Problemkindern helfen, Stuttgart 1996, Verlag Urachhaus
  • Dreier, Annette: Was tut der Wind, wenn er nicht weht - Schwerpunkt: Kinder unter 3 Jahren; Beltz Verlag
  • Sommer, Brigitte: Tausend-Fühler - Kreativität in Krippe und Kindergarten; Luchterhand Verlag
Von Kindern selbst geschrieben
  • Hesse, Ina / Wellershoff, Heide (Hrsg.): Es ist ein Vogel; Tübingen 1997, Attempo Verlag

Weitere Literaturhinweise zu den Themen Einfühlsame Erziehung und Mit Kindern über den Tod sprechen sind auf der Bücher-Seite zu finden.